Dienstag, 29. Juli 2025


Tod einer Wespe


Fotografische Arbeit einer offenbar toten Wespe. Symbolbild.

Es ist nicht so als hätte ich mir beide Hände in einen Schraubstock pressen lassen oder wäre nicht in der Lage, meinen Computer einzuschalten. Auch wenn der immer gemütlicher wird in dieser hochgetakteten Zeit. Aber nachdem ich, müde bereits, letztes Jahr mehr mit Zähnezusammenbeißen beschäftigt war und dieses Jahr nicht Kieferknirsche, sondern nur noch müde bin, verfolge ich mit dem einen (mittlerweile schlechten) Auge die Dauerbaustelle auf dem Nachbardach, führe das ein oder andere Gespräch mit den Arbeitern über Gerüst und Ziegel hinweg, lerne ein paar Brocken Polnisch („Kannst gleich nach Hause gehen!“), und mit dem anderen (noch guten) Auge betrachte ich den ein oder anderen Sanierungsfall in meiner eigenen Wohnung, tüftle Provisorien mit möglichst positiver Bilanz aus (Lebensdauer minus Haltedauer), manchmal mit grimmiger Lachfalte im Gesicht, weil ich mal eine Freundin hatte, die ab und an schimpfte („Du und deine Provisorien!“), aber auch einsehen musste, dass die (meist) hielten. Man musste halt am Schrank nur zunächst links unten drücken und dann erst die rechte Tür aufmachen. Ist wie Politik.

Bin also sehr mit Durchschnaufen beschäftigt, höre Coltrane, dies, das, male dabei begeistert meine stümperhaften Bilder in eine Kladde, die sich bereits in alle Richtungen aufgewellt hat, wie bei so einem Künstler, esse mein Brot und dazu Karotten und bin neulich vor Inspector Barnaby eingeschlafen. Lieber schlafe ich allerdings vor Brokenwood ein, weil ich natürlich sehr angetan bin von der rothaarigen, russischen Gerichtsmedizinerin, die es darin nach Neuseeland verschlagen hat. Leider läuft Brokenwood selten und vielfach nur in Wiederholungen (jedenfalls im TV), während andere Krimis pausenlos laufen. „Mord“ und „Tod“, von Norden bis Süden bis hin in die Bretagne.

Kriminalfälle close to home gibt es aber auch. In „Tod einer Wespe“ sehen wir einen nicht mehr ganz jungen Blogger (gespielt von Kid37) den Frühstückstisch verlassen, ins Bad gehen und das Pyjamaoberteil lösen (ist ab 16). Da hängt am Unterarm, eine wahre Geschichte wie bei einer Gerichtsmedizinerinnenserie, eine zusammengekrümmte, weil tote, zudem aber unbemerkt gebliebene Wespe, die nur noch von ihrem Stachel in der Haut gehalten wird. Der nicht mehr ganz junge Blogger zieht vorsichtig den Stachel raus, wundert sich über Motiv und Durchführung der Tat und die näheren Umstände des „Unalivements“, wie man in den USA sagen würde. Die Wespe, keine „gemeine“ oder „deutsche“ oder „sächsische“, eher wohl eine kleine Feldwespe, kam wohl dazu, sich hinterrücks in den Ärmel schleichen, aber nicht mal mehr dazu, Gift zu injizieren. Jedenfalls pochte oder juckte da nichts.

„Wissen Sie“, gab der nicht mehr ganz junge Blogger (immer noch gespielt von Kid37) dem Kommissar (knurrig: Peter Lohmeyer) zu Protokoll, „wenn man im Leben so oft gepiesackt wurde wie ich, dann merkt man das irgendwann gar nicht mehr.“ Der Kommissar seufzt und nickt. “Wir haben es alle nicht leicht.“

„Spannend und gut gespielt - diese Folge sticht!“ urteilt eine bekannte Fernsehprogrammzeitschrift und gibt den Daumen hoch.

>>> Geräusch des Tages: PJ Harvey, You Come Through


 


Montag, 16. Juni 2025


Merz/Bow #82



Der Zirkus ist in der Stadt, und vielleicht reise ich mit. Allerdings: Zu meinen notorisch schlecht geschnittenen Haaren gesellt sich mehr und mehr eine schlecht gelaunte Müdigkeit, eine unkonzentrierte Lustlosigkeit, ein (hoffentlich nur) inneres Gnarzen und Zischeln, transmissionsloses Herumeiern, eine ergebnisoffene Rastlosigkeit, angetrieben vom Bohrwerk fleißiger Handwerker auf dem Gerüst am Nachbarhaus. Wie soll man da ins Blog notieren von Listen und Notationen und Werkverzeichnissen? Eben.

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Das drängende Thema, von keinem mehr gern gehört, heißt also wie jedes Jahr "Urlaub", den ich dieses Mal aber - wie jedes Jahr ersehnt - wie von der Firma MiuMiu vorgeschlagen [YT] mit Fotografieren und Gartensitzerei verbringen möchte. Ungerechterweise, also wie immer also, wurde in dem kleinen Film die von mir eigentlich angestrebte Rolle mit Willem Dafoe besetzt. Aber wer genau hinschaut, kann mich in einer kleinen Nebenrolle erkennen, wie ich als Butler gekleidet mit einem Silbertablett durch die Szenerie schleiche.

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Ich war einmal im Urlaub, und zwar in Istanbul. Damals gab es das aber noch nicht: Orhan Pamuks Museum der Unschuld [YT]. Der Struktur seines gleichnamigen Romans folgend, präsentiert es seit 2012 Schaukästen mit Assemblagen aus Alltags- und Erinnerungsstücken, eine Art Stadtplan für eine nostalgische, atmosphärische Reise durch ein imaginiertes Istanbul, Kindheitsverklärungen, Familiengeschichten und historischen Ereignissen.

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Zwiespältige Erinnerungen bietet auch die vieldiskutierte Online-Auktion einiger von David Lynchs Besitztümern. Bücher, Gitarren, Drehbücher, Hifi- und andere Technik, Merchandising seiner Filme, aber auch offenbar ungesäuberte Kaffeemaschinen, Bügelbretter und anderer Kram und Krempel einer ganz normalen Haushaltsauflösung, was dem Ganzen etwas unwürdig Gefleddertes verleiht. Darunter war auch Lynchs Filmbibliothek, die hier in kleine Konvolute zerlegt angeboten wurde. (Ich hörte, ein Teil der Bücher ging an Filminstitute, dies sei der Rest, der auf ausdrücklichen Wunsch Lynchs versteigert werden sollte.) Auf Instagram gibt es einen Überblick.

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Kommen wir zur Erkenntnistheorie, einem weiteren Feld dieses Instituts hier. Webseiten, so ein mit Tinte und Feder notierter Eintrag in meinem Studientagebuch, sind heutzutage wie dreijährige Kinder. "Wir nutzen Cookies und andere Technologien", erklären diese Steppkes einem stolz. Das ist so wie "Papa fährt Mercedes" oder "Ich habe eine Katze zu Hause" - gewichtig vorgetragene Informationen, die aber keinen wirklich interessieren. "Ich habe auch Cookies zu Hause" sagt man dann freundlich, um eine gewisse Einfühlsamkeit vorzugeben und das Gegenüber nicht zu enttäuschen. (Manchmal kräht es dann "Gar nicht!" oder sie fragen, leicht überfordert mit eigentlich simplen Denkprozessen beschäftigt, "Wirklich?")

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Derzeit kein Urlaubsziel. Aber die Fotos von Evgenia Arbugaeva aus ihrer sibirischen Heimat sind (immer noch) eindrucksvoll. Auch hier besticht eine gewisse unerklärte Zeitlosigkeit, der Kontrast aus Brauntönen und einzelnen Farbtupfern und dem frostigen Weiß der eisigen Landschaft, den harschen Lebensbedingungen und eindrucksvollen visuellen Erfahrungen. Sie lebte lange in New York (das ist eine große Stadt in den USA und auch kein Reiseziel derzeit), kehrte aber vor ein paar Jahren in ihre Heimat zurück. Etwas, das ich für mich selbst vermeiden möchte.

MerzBow | von kid37 um 15:20h | 2 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Montag, 19. Mai 2025


Schwarzer Nebel

Ging ich also letzte Woche zu Feinkunst Krüger auf die Record-Release-Party von Xmal Deutschland. Deren Alben drehten sich ja in den 80ern in Dauerrotation auf meinem Dual; schöner, düsterer Sound, dunkle Träume, die wie schwarzer Sirup aus den Texten sickerten, die ebenso schwarzen Papiermembranen der Lautsprecher runter, auf den Teppich, der war anthrazit, und dann natürlich in mich und mein dunkles Herz unter dem schwarzen Second-hand-Jacket.


Xmal Deutschland: Goth-Lieblinge in England

Xmal Deutschland aus Hamburg hatten vor allem in England, also UK, beachtliche Erfolge. Und überhaupt: eine deutsche Band auf dem eleganten Label 4AD (u.a. Cocteau Twins, später auch die Pixies und viele mehr), konsequentes Design von Sound und Album-Art (23 Envelope und ihrem Designer Timothy O'Donnell), gothzerzauste Haare und ein Ausblick in endlose Verlorenheit – genau die richtige Wattierung für Jungs in der Provinz, die nicht viel mehr als betongraue Wände zum Thema beizutragen hatte.


Xmal fotografiert auch, hier habe ich mir den Namen der Fotografin nicht gemerkt

Das alles erzählte ich auch kurz Sängerin Anja Huwe, die anwesend war und sich sicherlich brennend für jahrzehntealte Befindlichkeiten aus Wuppertal interessierte, wie ich einerseits befand, aber auch nicht zu sehr insistierte. „Damals“, „mein Leben“, „verändert“ als Schlüsselworte der Fan-Kommunikation sozusagen. Damals, auch das muss erwähnt werden, war ich aber eher #Team Manuela Rickers, von der ich überhaupt nichts wusste, die aber als düstere Melancholieerscheinung über ihrer Gitarre hing und dieser eine Klangwand von sehnsüchtigem Schmerz entlockte, der mir damals eine Tapete fürs Leben schien. Ob sie an diesem munterem Abend anwesend war, weiß ich gar nicht. Möglicherweise hat sie sich verändert, und ohne Gitarre erkenne ich sie nicht.



Keine Angst: Wurde nicht ausgesetzt, stand nur kurz verloren rum

Ich war wie immer, wurde also auch von dem einen oder der anderen erkannt, wanderte entlang der ausgestellten Exponate (Fotos, Tourplakate, Ephemera und Designentwürfe) bis hin zu den ausgestellten Bildern von Anja Huwe durch einen Teil auch meines Lebens, schob die Brille rauf und runter, lauschte den Gesprächen aus der Branche, Musik, Musik, Musik und musste schmunzeln, weil ich früher auch mal randständiger Teil dieser Welt war, und das war dann schon gemütlich.

Zum Glück war es aber nicht nur lakritzklebrige Nostalgie: Die remasterten Neuveröffentlichungen der maßgeblichen Alben klingen mit frisch entstaubten Spinnweben immer noch atmosphärisch, Anja Huwe hat letztes Jahr mit Codes ein neues Album herausgebracht (mit Unterstützung von Mona Mur) und ging mit neuen und alten Stücken auf Tour. Und irgendwo auf dieser Welt ist eine Flanger-Gitarre, die xmal nachhallt.

Geräusch des Tages >>> Xmal Deutschland, Allein


Radau | von kid37 um 14:37h | 10 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 30. April 2025


Von Ostern bis Walpurgis


Der Herr Jesus wird verraten

Kurz vor Ostern wie ein ungelenk herumschlingerndes Ei in die alte Heimat gekullert, ein paar Dinge mussten geregelt, andere entriegelt werden. Das ist jetzt so diese Phase, ich bin plötzlich Eltern pubertierende Teenager geworden, nur dass die doppelt so alt sind wie ich (fast und gefühlt). Man macht dann so Vorratskäufe, lernt Supermärkte kennen, die glaubt man nicht, kilometerlange, aber Misstrauen erweckende Fleischtheken, Schnapso-Schnapsi-Schnaps und Mittelgang. Männer im Mittelgang, mein nächstes Buchprojekt zum Thema „Kultur & Gesellschaft“ schrieb sich fast von selbst, das Ganze könnte dann als Recherchereise von den Tantiemen und deren Versteuerung abgesetzt werden. Ich wollte mich dann auch schnell absetzen, musste aber noch zur Karfreitagsprozession, wenigstens die Anfänge der ganzen unglückseligen Geschichte sehen. Bis zur Kreuzigung habe ich es nicht geschafft, es ist ein langer Marsch, selbst mit dem imaginärem Kreuz, das man so trägt. Aber wie der zur Verblendung verführte Herr Ischariot den armen Herrn Jesus verriet, das sah ich wohl. Auch hier Übersprungshandlung bei Umstehenden im Deweerth’schen Garten. „Da vorne“, so ein Mann zu seiner kleinen Gruppe, sei „ein Geldautomat, da müsse er noch hin.“ Einmal 30 Silberlinge, Cash auf die Kralle, wie man im Tal so sagt, und bitte beleglos.


Heimdekoration kennt viele Muster

Bei meiner Mutter gibt es da, wo bei euren Eltern die Porzellangänse aufgereiht sind, Sepulchralschmuck wie auf einem Friedhof. Gleich daneben, nur halb hinter einem Vorhang versteckt, eine viktorianische Puppe, die um Mitternacht zum Leben erwachte und dem Schläfer auf dem Sofa deutlich zuflüsterte: „Es ist eine große Schuld! Es ist eine große Schuld!“ Man hätte das ein wenig unheimlich finden können, aber ich habe solche Situationen im Kino erlebt, wenn irgendwelche Annabelles oder andere Porzellanpuppengeister auf alten Dachböden Staub aufwirbeln. Man muss sie sich zu Freunden machen oder gleich kräftig draufschlagen. Manchmal muss man auch Buße tun oder ein altes Unrecht sühnen. Oder einfach noch mal in so einem Trash-Supermarkt einkaufen, damit ist auch einiges abgetragen.


Demnächst im Kino: Das Spukhaus in Wuppertal

Im Zug zurück durch die Nacht dann Trümmerstimmung. Erschöpfte Studenten, dauertelefonierende Schwärmer, die Halt und Trost oder einfach nur offene Ohren suchen. Dabei auch viel Verrat. „Ich will ja nicht schlecht reden, aber…“ Die neue Kollegin jedenfalls hat einiges angestellt, manches davon auch höchst privat. „Stell dir vor, und das darf niemand wissen, aber…“ Es folgte Delikates und auch weniger Delikates, Menschliches und Allzumenschliches und andere Dinge die das Leben einem in den Schoss wirft und keinem was angehen. Schon gar nicht dem Großraumwagen. Ist ja kein Blog. Für mich als jemanden, der mit anderen Menschen kaum spricht, schon interessant, wie das unter sog. Freunden und Kollegen so geht. „Sag es bitte keinem weiter.“


Leitfaden und Erlebnisbericht: Gustav Meyrinks Walpurgisnacht


Brombeerzweig: Nicht Geißel, nicht Maibaum. Heimdekoration kennt viele Muster

Wollte mich dieses Jahr ganz abgerundet auf Walpurgis vorbereiten und versuchte, einen Maibaum zu finden. In der Kleingartengegend hier lag aber nur ein Gestrüpphaufen mit dornenkronigen Brombeerranken. Bin noch nicht überzeugt, ob das eine angemessene Einladung ist für junge Paganistinnen, die nackt oder im im weiß wehenden Hemdchen darum herumtanzen wollen und bunte Bänder verweben.


Paganistinnen in der Walpurgisnacht. Unbek. Fotograf

Vorm Nebenhaus steht ein Gerüst, die könnten also gut auf ihrem Besen heranfliegen, landen und Spaßmagik und anderen Frühlingsschabernack betreiben. Gustav Meyrink hat da einiges zu geschrieben, Punsch und Panik in der Nacht, Gewispertes und Gerauntes, einiges davon rückwärts gesprochen wie von einer alten von Dämonen besessenen Puppe im verfluchten Elternhaus. Ich nehme vorsichtshalber einen aus Wuppertal mitgebrachten Schnapso-Schnaps und nasche zur Stärkung mit Nasomatto sanft parfürmierte Kekse, was wohl der letzte Schrei unter jungen Leuten sein soll, wie ich mir habe erzählen lassen. Klingt kontrovers, aber ich will da nicht richten.


 


Samstag, 12. April 2025


Schaudern am Kanal


Das Frühstück "Masuren" im Hermetischen Café

Der erste Kaffee am frühen Morgen. Ich sitze am Fenster und zähle die Enten unten auf dem Kanal, will wissen, ob sich der Fuchs wieder eine geschnappt hat. Abends kann man ihn manchmal sehen, wie er das Wasser quert. Es gibt auch ein Nutria, also sicher eine kleine Gruppe, denn was macht ein Nutria allein, es kann ja nicht wie ich fantastische Bilder malen oder Cozy-History-Detektivserien im TV schauen. Solche Gedanken ordnen sich ein wenig bei der ersten Tasse Kaffee also, dem Blick auf Wasser und Vögel, dem Sprachfetzen der polnischen Arbeiter auf dem Gerüst am Nachbarhaus. Urlaub in Masuren! denke ich. Ich war aber noch nie da, wie will ich das beurteilen.

Dann ist es Zeit sich meiner gelehrten Arbeit (bin angestellt an mehreren Instituten) an meinem „Traktat über die Liebe und andere erschauernde Phänomene der niederen Natur, illustrirt vom Author selber“ zu widmen. Darin beschreibe ich beurteilungsfest, wie der Horror aus Filmen und Geschichten und Gegenwart im Grunde romantischer Natur ist. Denn, so lehrt es die Lebenserfahrung aus beiden Polen menschlicher Empfindsamkeit, muss die Enthüllung des Erwarteten gleichermaßen wie die des Befürchteten, um Spannung und Erregung des Gemüths aufzubauen, höchst langsam geschehen. Die Affekte regende Entkleidung des Monsters und seiner Natur gestaltet sich Stück für Stück. Die plumpe Entblößung indes – man kennt es aus jeder Straßenbahn – mündet unweigerlich in Gelächter. (So ziehe ich mich nur noch im Dunkeln aus.)

Da ist der gebannte Blick auf die Hand, die sich Stück für Stück aus einem Ärmel schiebt. Schüchtern oder gleich zärtlich, gierig oder gar bedrohlich, greifend, tastend, anziehend oder abstoßend, blutend oder schwitzend, mit sechs Fingern oder keinem – wir können den Blick nicht wenden, sind gebannt und voller Erwartung, wie lang der Arm noch werden wird. Nur das Verborgene sei erotisch, heißt es. Dies gilt gleichermaßen für den Horror, das lernen wir im Märchen. Denn wer den Namen des Rumpelstilzchens kennt, muss es nicht fürchten, wer den Anblick des bösen Biests erträgt, lockt den verwunschenen Prinzen daraus hervor. Der Horror ist erblickt, seine Macht verschwindet.


Wenn man das Licht einschaltet, verliert der Horror seinen Schrecken

So fülle ich fleißig mein Buch über die Sichtbaren Dinge und unerklärlichen wahrhaftigen Phänomene der Welt, das sich dereinst im Nachlass finden wird. Himmelsstürze, saure Milch, vom Grüßen und Begrüßtwerden, wie man den Garten vor Nacktschnecken schützt und sich selber gleich mit, das Unliebsame, Nachtgesänge, Rumoren im Bauch und andere Befindlichkeiten, das Phänomen zweier betrunken kommunizierender Röhren, die Handkurbel als zweitwichtigste Erfindung nach dem Rad, der Gang der Sterne als Ausdruck von Physik und Mutmaßung, usw. usf. – all das findet sich in dieser Enzyklopädie des erstaunlichen Wissens.

Am Nachbarhaus röhrt mittlerweile ein Bohrgerät. Die masurischen Satzfetzen werden kürzer und fliegen umher wie Möwen über dem Kanal. Der Kaffee ist getrunken, Gedanken sind gedacht, der Tag klopft an, noch unenthüllt. Verzückung oder Horror. Im Dunkeln kannst du alles sein.


 


Montag, 7. April 2025


Merz/Bow #81



Wer was erlebt, der hat was zu erzählen. Markus „Mequito“ Pfeifer hat das jetzt endlich nicht nur in seinem Blog aufgeschrieben. Seine Novelle Springweg brennt über wilde Jahre und wilde Herzen nimmt jeden mit und lässt keinen zurück und ist in der Edition Schelf erschienen. Kann man zum Beispiel zu Ostern verschenken.

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Wer selbst nichts erlebt, mag vielleicht anderen Leuten zuhören. Die Webseite After the Tone sammelt Material von Anrufbeantwortern und ihren kleinen Kassetten, die man auf Flohmärkten oder in Trödelläden finden kann, gleich den Alben voller anonymer Fotos von Familien, die man nicht kennt. Nach dem Ton folgt ein lustiges, herzzerreissendes, langweiliges oder auch verstörendes Allerlei aus Mitteilungen, ein Sammelsurium menschlicher Gründe und Abgründe, akustischer Poesie oder kommunikativer Unbeholfenheit. Drohungen, Liebeserklärungen, Tagesreports oder einfach Nachfragen nach vergessenen Schlüsseln, Zetteln, Lieben. Läuft einfach als Dauergequatsche so durch, so lange, wie man halt Nerven hat für die Banalitäten und Dramen im Leben anderer Leute. Piep.

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Hab keine Zeit zum Telefonieren. Ich habe zuletzt meine ausführliche Sammlung ausführlicher Dokumentationen meines ausführlichen Studentenlebens durchforstet und mich dabei hin und wieder selbst überrascht angesichts der Vielfalt und Tiefe und natürlich Exzellenz meiner Mitschriften von Vorlesungen und Seminaren und konnte daher das eigentliche Ziel - die akademische Selbstentleibung durch Zubringung von immer schon obsoletem Universitätsgekritzels zum Altpapierconainer nicht umsetzen. Jetzt, wo Bücher aus Bibliothken verbannt werden sind es vielleicht letzten Zeugnisse menschlichen Denkens und Forschens, und nachher kmmen dan Student:innen aus Marbach und wollen wissenschaftsphilologische... Na ja, der Kram hat jetzt einen Karton für eine jährliche Revision, und vielleicht schmeiße ich ihn eines Tages endlich mal unbesehen in den Müll. Schon aber interessant auch!

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Habe mal nachgeschaut. Mittlerweile habe ich vier Titel aus der Edition von Joie Panique, aber leider noch keine 37 aus den nummerierten und jeweils auf 100 Stück limitierten Ausgaben ergattern können. (Die vom US-amerikanischen Pop-Surrealisten Ryan Heshka habe ich ärgerlicherweise verpasst.) Jetzt heißt es dranbleiben wie ein Spieler, der nicht aufhören kann. Eines Tages kommt die Lucky Number. Nebenbei bildet sich auf diese Weise eine Art Sammelalbum wie bei einer Fußballweltmeisterschaft, das natürlich auch Platz braucht und vielleicht einen eigenen Karton. Vielleicht gibt es auch eine Tauschbörse für andere Menschen mit bevorzugten Nummern im Zahlrenraum von 1 bis 100.

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Hab mich die Tage mit einer deutlich jüngeren Frau unterhalten und berichtete ihr dabei von meiner trashigen, aber charmanten Lieblings-Sitcom, entschuldigte mich aber bald, ihr völlig banale Dinge über eine banale Serie erzählt zu haben, worauf sie mich rigoros unterbrach und sagte, ich solle sofort aufhören, so zu reden, die Sache brächte mir offenbar viel Freude und damit sei die nicht "banal", und jetzt gebe ich euch den sehr dringlichen Rat: Heiratet diese Frau.

MerzBow | von kid37 um 19:04h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Dienstag, 25. März 2025


Sarah Lees kleine Wunderwelt



Wo wir gerade über Outsider-Art sprechen. Wer wie ich seit ein paar Jahren Sarah Lee folgt, einer Krankenschwester aus Irland, die seit langem aber in London lebt, sich als Malerin mittlerweile einen Namen gemacht und nichts mit der gleichnamigen Künstlerin in New York zu tun hat, hat es sicher mitbekommen: Es gibt nun ein kleines Buch mit einer Auswahl ihrer Werke, auf 100 Exemlare limitiert und nur noch in geringer Stückzahl erhältlich.

Sarah Lee, der ein Kunstlehrer einst attestierte, nicht genug Talent für Kunst zu haben, startete während der Pandemie mit ihrem Instagram-Account und fand rasch eine interessierte und entzückte Gefolgschaft für ihre skurrilen, von B-Filmen und Pop-Kultur beeinflussten, krude gemalten Folk-Art-Bilder. Mythen, Märchen und Legenden vom unbefangenen Rotkäppchen bis zum weiblichen Blaubart speisen ihre Welt, dazwischen gesellen sich abgehalfterte Rockstars in billigen Hotelzimmern und kleine Alltagsdramen um Familie und andere Mitgefangene da draußen.

Ich finde Stil und Inhalte sehr ansprechend, es könnten vermutlich Erzählungen aus meinem eigenen Leben nach 22:00 Uhr sein. Noch mehr begeistert mich aber die Beharrlichkeit und die mittlerweile erlangte Souveränität, mit der hier eine Nische bespielt wird - subversiv, zitatenreich, melancholisch und augenzwinkernd zugleich. Ich hoffe, der erwähnte Kunstlehrer erinnert sich und schämt sich für seine enge Sicht und mangelnde Ermunterung. Man soll Menschen und ihre Kreativität nicht klein halten. Das Buch ist bei Joie Panique in Paris erschienen, in einer kleinen Reihe, in der auch Anke Feuchtenberger, Ryan Heshka oder Julia Soboleva veröffentlicht wurden.

Sarah Lee. Simulacre. Paris: Joie Panique, 2025.

>>> Interview mit Sarah Lee